Sonntag, 2. März 2008
Schlimmer als ein Verbrechen
von Uri Avnery
26.01.2008 — uri-avnery.de

ES SAH AUS wie der Fall der Berliner Mauer. Und es sah nicht nur so aus. Einen Augenblick lang war der Rafah-Übergang das Brandenburger Tor.

Es ist unmöglich, nicht die Hochstimmung mitzuempfinden, als die Massen der unterdrückten und hungrigen Leute die Mauer durchbrachen und mit strahlenden Augen jeden, den sie trafen, umarmten – dies mitzufühlen, auch wenn es die eigene Regierung ist, die die Mauer überhaupt errichtet hat.



Der Gazastreifen ist das größte Gefängnis der Erde. Der Durchbruch der Rafahmauer war ein Befreiungsschlag. Er beweist, dass eine unmenschliche Politik immer eine dumme Politik ist: Keine Macht der Welt kann eine Masse Menschen aufhalten, die die Grenze der Verzweiflung überschritten hat.

Das ist die Lektion von Gaza im Januar 2008.

MAN KÖNNTE den berühmten Ausspruch des französischen Staatsmannes Boulay de la Meurthe leicht verändert wiederholen: „Es ist schlimmer als ein Kriegsverbrechen, es ist ein törichter Fehler !“

Vor Monaten verhängten die beiden Ehuds – Barak und Olmert – eine Blockade über den Gazastreifen und brüsteten sich damit auch noch. In letzter Zeit haben sie die tödliche Schlinge noch enger gezogen, so dass kaum mehr etwas in den Gazastreifen gelangen konnte. Letzte Woche wurde die Blockade absolut gemacht – keine Lebensmittel und keine Medikamente. Sie erreichte ihren Höhepunkt, als man auch die Brennstofflieferungen aussetzte. Große Teile des Gazastreifens blieben ohne Strom – Brutkästen für die Frühgeburten, Dialysemaschinen, Wasserpumpen und Pumpen für die Abwässer. Hunderttausende blieben bei strenger Kälte ohne Heizung; sie waren nicht in der Lage zu kochen, die Lebensmittel gingen zu Ende.

Immer wieder sandte Al-Jazeera die Bilder in Millionen Häuser der arabischen Welt. TV-Stationen in aller Welt zeigten sie ebenfalls. Von Casablanca bis Amman brachen wütende Massenproteste aus und erschreckten die arabischen Regime. In Panik rief Hosny Mubarak Ehud Barak an. An jenem Abend war Barak gezwungen, wenigstens vorübergehend die Brennstoffblockade aufzuheben, die er am Morgen verhängt hatte. Abgesehen davon, blieb die Blockade total.

Man kann sich kaum eine dümmere Aktion vorstellen.

DER GRUND für das Aushungern und Frieren-lassen von anderthalb Millionen Menschen, die auf einem Gebiet von 365 qkm zusammen gedrängt leben, ist die andauernde Beschießung der Stadt Sderot und der umliegenden Ortschaften.

Das ist ein gut ausgewählter Grund. Er vereinigt die einfacheren und armen Teile der israelischen Gesellschaft. Er macht die Kritik der UN und der Regierungen in aller Welt unwirksam, die sich sonst gegen die Kollektivstrafen ausgesprochen hätten, die zweifellos nach dem Völkerrecht Kriegsverbrechen sind.

Der Welt wird ein klares Bild präsentiert: das Hamas-Terrorregime in Gaza feuert Raketen auf unschuldige israelische Zivilisten. Keine Regierung der Welt kann es dulden, dass seine Bürger von jenseits der Grenze bombardiert werden. Das israelische Militär hat keine militärische Antwort auf die Qassam-Raketen gefunden. Also gibt es keinen anderen Weg, als auf die Bevölkerung von Gaza einen solch starken Druck auszuüben, dass sie sich gegen die Hamas erhebt und sie zwingt, das Abfeuern von Raketen zu stoppen.

An dem Tag, an dem das Kraftwerk in Gaza aufhörte, Strom zu liefern, waren unsere Militärkorrespondenten voller Freude: es wurden nur zwei Qassams vom Gazastreifen abgeschossen.. Das funktioniert also! Ehud ist ein Genie!

Aber am Tag danach, als 17 Qassams landeten, war die Freude verpufft. Politiker und Generäle waren (buchstäblich) verrückt geworden: ein Politiker schlug vor „ noch wahnsinniger als sie zu handeln“, ein anderer schlug vor „ für jede Qassam das urbane Gaza wahllos zu bombardieren“, ein berühmter Professor (der ein bisschen verwirrt ist), schlug vor, das „äußerste Böse“ anzuwenden.

Das Regierungsszenario war eine Wiederholung des 2. Libanonkrieges (Der Bericht der Untersuchungskommission wird in ein paar Tagen veröffentlicht). Damals nahm die Hisbollah auf der israelischen Seite der Grenze zwei Soldaten gefangen; jetzt feuerte die Hamas auf Städte und Dörfer auf der israelischen Seite der Grenze. Damals entschied die Regierung übereilt, einen Krieg anzufangen; jetzt entschied die Regierung übereilt, eine totale Blockade zu verhängen. Damals befahl die Regierung, eine massive Bombardierung der zivilen Bevölkerung, um sie dahin zu bringen, Druck auf die Hisbollah auszuüben; jetzt entschied die Regierung, das Leben der zivilen Bevölkerung im Gazastreifen unerträglich zu machen, um sie dahin zu bringen, auf die Hamas Druck auszuüben.

Die Folgen waren in beiden Fällen dieselben: die libanesische Bevölkerung erhob sich nicht gegen die Hisbollah, im Gegenteil, die Menschen aller religiösen Richtungen vereinigten sich hinter der schiitischen Organisation, Hassan Nasrallah wurde der Held der ganzen arabischen Welt. Und jetzt vereinigt sich die Bevölkerung in Gaza hinter der Hamas und beschuldigt Mahmoud Abba der Zusammenarbeit mit dem grausamen Feind. Eine Mutter, die ihren Kindern nichts zu essen geben kann, verflucht nicht Ismail Hanijeh, - sie verflucht Olmert, Abbas und Mubarak.

WAS ALSO tun? Schließlich ist es unmöglich, das Leiden der Bevölkerung von Sderot, die unter ständigem Beschuss liegt, zu tolerieren.

Was vor der verbitterten Öffentlichkeit verborgen blieb, ist , dass das Abfeuern der Qassams schon morgen früh gestoppt werden könnte.

Schon vor mehreren Monaten hatte die Hamas einen Waffenstillstand vorgeschlagen. Sie wiederholte dieses Angebot in dieser Woche.

Ein Waffenstillstand bedeutet nach Ansicht der Hamas: die Palästinenser werden aufhören, Qassams und Mörsergranaten abzufeuern, die Israelis werden aufhören, in den Gazastreifen einzufallen, mit dem gezielten Töten aufhören und die Blockade beenden.

Warum nimmt unsere Regierung diesen Vorschlag nicht an?

Sehr einfach: um solch einen Deal auszuhandeln, müsste man mit der Hamas sprechen - direkt oder indirekt. Und genau das weigert sich, unsere Regierung zu tun.

Warum? Wieder sehr einfach. Sderot dient nur als Vorwand – so wie die beiden gefangenen Soldaten ein Vorwand für etwas ganz anderes waren. Der wirkliche Zweck der ganzen Übung ist, das Hamasregime im Gazastreifen zu Fall zu bringen und so zu verhindern, das sie die Westbank übernimmt.

Einfach und unverblümt gesagt: die Regierung opfert das Schicksal der Sderotbewohner auf dem Altar eines hoffnungslosen Prinzips. Für die Regierung ist es wichtiger, Hamas zu boykottieren – weil sie jetzt die Speerspitze des palästinensischen Widerstandes ist - als das Leiden von Sderot zu beenden. Alle Medien wiederholen diese Lüge.

ES IST schon früher einmal gesagt worden, dass es in unserm Land gefährlich sei, eine Satire zu schreiben – zu oft wird die Satire Wirklichkeit. Der ein oder andere Leser mag sich vielleicht an einen satirischen Artikel erinnern, den ich vor Monaten schrieb. In ihm beschrieb ich die Situation im Gazastreifen als wissenschaftliches Experiment, das herausfinden sollte, wie lange man eine zivile Bevölkerung aushungern und ihr Leben zur Hölle machen kann, bis sie ihre Hände erhebt und sich ergibt.

In dieser Woche ist diese Satire offizielle Politik geworden. Anerkannte Kommentatoren erklärten explizit, dass Ehud Barak und die Armeechefs nach dem Prinzip der „empirischen Lösung“ vorgehen und ihre Methoden täglich nach den Ergebnissen verändern. Sie unterbrechen die Brennstofflieferung zum Gazastreifen, beobachten, wie dies funktioniert, und machen einen Rückzieher, wenn die internationale Reaktion zu negativ ist. Sie stoppen die Lieferung von Medikamenten, beobachten, wie das funktioniert etc. Das wissenschaftliche Ziel rechtfertigt die Mittel.

Der Mann, der das Experiment durchführt, ist Verteidigungsminister Ehud Barak, ein Mann vieler Ideen und mit wenig Skrupel, ein Mann, dessen Neigung grundsätzlich unmenschlich ist. Er ist jetzt vielleicht die gefährlichste Person in Israel, gefährlicher als Ehud Olmert und Binyamin Netanyahu, auf die Dauer gefährlich für die pure Existenz Israels.

Der für die Ausführung verantwortliche Mann ist der Generalstabschef. In dieser Woche hatten wir Gelegenheit, die Reden von zweien seiner Vorgänger, General Moshe Ya’alon und Shaul Mofaz zu hören. Es war ein Forum mit übertriebenem intellektuellem Anspruch. Bei beiden entdeckte man Ansichten, die sie irgendwo zwischen die extreme Rechte und die Ultra-Rechte platzierten. Beide haben eine erschreckend primitive Gesinnung. Man muss kein Wort über die moralischen und intellektuellen Qualitäten ihres direkten Nachfolgers Dan Halutz verlieren. Wenn dies die Stimmen der drei letzten Generalstabschefs sind, wie steht es dann um den augenblicklich Amtierenden, der nicht so offen wie sie reden kann? Ist dieser Apfel weiter weg vom Stamm gefallen?

Bis vor drei Tagen konnten die Generäle der Meinung sein, das Experiment habe Erfolg gehabt. Das Elend im Gazastreifen hatte seinen Höhepunkt erreicht. Hundert Tausende sind aktuell vom Hunger bedroht. Der Chef der UNWRA warnte vor einer unmittelbar bevorstehenden menschlichen Katastrophe. Nur die Reichen konnten noch mit einem Auto fahren, ihre Wohnung heizen und sich satt essen. Die Welt stand daneben und rührte ihre kollektive Zunge. Die führenden Köpfe der arabischen Staaten geben nichtssagende Phrasen des Mitleids von sich, ohne einen Finger zu rühren.

Barak, der mathematisch nicht unbegabt ist, konnte sich ausrechnen, wann die Bevölkerung schließlich zusammenbricht.

UND DANN geschah etwas, was keiner von ihnen voraussah, obwohl es das am ehesten voraussehbare Ereignis auf der Erde war.

Wenn man anderthalb Millionen Menschen in einen Dampfkochtopf steckt und ihn weiter anheizt, dann wird er explodieren. Genau das ist an der Grenze zu Ägypten geschehen.

Zunächst gab es eine kleine Explosion. Eine Menge stürmte das Tor, ägyptische Polizisten eröffneten das Feuer, Dutzende wurden verwundet. Das war eine Warnung.

Am nächsten Tag kam der große Angriff. Palästinensische Kämpfer sprengten die Mauer an mehreren Stellen in die Luft. Hunderttausende brachen auf ägyptisches Gebiet durch und holten tiefen Luft. Die Blockade war gebrochen.

Mubarak war in eine unmögliche Situation geraten. Hundert Millionen Araber, eine Milliarde von Muslimen hatten gesehen, wie die israelische Armee den Gazastreifen von drei Seiten abgesperrt hat, vom Norden, vom Osten und vom Meer her. Die vierte Seite der Blockade wurde von der ägyptischen Armee ausgeführt.

Der ägyptische Präsident, der die Führung der ganzen arabischen Welt beansprucht, wurde als Kollaborateur bei einer unmenschlichen Operation eines grausamen Feindes angesehen – um die Gunst (und das Geld) der Amerikaner zu gewinnen. Seine internen Feinde, die Muslimbrüder, nützten die Situation aus, um ihn vor den Augen seines eigenen Volkes anzuprangern.

Es ist zweifelhaft, ob Mubarak in dieser Position hat standhalten können. Aber die palästinensischen Massen erleichterten ihm die Entscheidung. Sie entschieden für ihn. Sie brachen aus wie eine riesige Tsunami-Welle. Nun muss er sich entscheiden, ob er sich Israel beugt, um die Blockade über die arabischen Brüder wieder zu verhängen.

Und wie ist es mit Baraks Experiment? Wie sieht der nächste Schritt aus? Es gibt nur wenige Optionen.

Den Gazastreifen wieder zu besetzen. Die Armee liebt diese Idee gar nicht. Sie begreift, dass dies Tausende von Soldaten einem grausamen Guerillakrieg aussetzen würde, der nicht wie eine Intifada verlaufen würde.

Die Blockade wieder enger ziehen und extremen Druck auf Mubarak ausüben, einschließlich der Anwendung des israelischen Einflusses auf den US-Kongress, um ihm die zwei oder mehr Milliarden vorzuenthalten, die er jedes Jahr für seine Dienste bekommt.

Aus der Not eine Tugend machen, indem er den Streifen Mubarak überlässt unter dem Vorwand, dass dies schon immer Baraks verborgener Wunschgedanke war. Ägypten müsste für Israels Sicherheit sorgen und den Abschuss der Qassams verhindern und seine eigenen Soldaten dem palästinensischen Guerillakrieg aussetzen -- als es dachte, endlich die Bürde dieses armen und unfruchtbaren Gebietes los zu sein, nachdem die Infrastruktur durch die israelische Besatzung zerstört worden war. Wahrscheinlich wird Mubarak sagen: Danke, das ist sehr freundlich von euch, aber nein danke!

Die brutale Blockade war ein Kriegsverbrechen. Und was noch schlimmer ist: sie war ein törichter Fehler.

Orginalartikel: Dieser Artikel ist NICHT bei www.zmag.org erschienen!
Übersetzt von: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz

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